Seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom Dezember 1948 haben sich die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen dazu verpflichtet „die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte durchzusetzen“. Dieser historisch einmalige Tatbestand, der als gefeierter Akt „das höchste Bestreben der Menschheit“ zum Ausdruck bringt, demaskiert auf eine höchst zynische Weise die wohl größte anzunehmende Lüge im Umgang mit den eigenen Moralvorstellungen, denn kann etwas als durchgesetzt gelten, das in beständigem Maße verletzt und unterminiert wird?
Folglich kann die Formulierung „Verwirklichung der Menschenrechte“ lediglich bedeuten, dass sie irgendwann – in unbestimmter Zeit – verwirklicht und durchgesetzt werden sollen. Aber, und an dieser Stelle drängt sich sogleich die nächste kritische Frage auf, gelten die Menschenrechte nicht schon infolge ihrer Erklärung als CONDITIO HUMANA universell, denn folgt man dem Buchstaben des ersten Artikels, so sind alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Demnach müssen die Menschenrechte sowohl als positive Rechte als auch als von Natur gegebene individuelle Rechte verstanden werden, die von jeder nur möglichen politischen Kraft durchzusetzen und zu schützen sind. Diese Aussage wird jedoch beim Lesen eine gewisse Art der Verstörung und Verwunderung hervorrufen, denn die geschichtliche Erfahrung, die tagtäglich von den Massenmedien aufs Neue erzeugt wird, spricht doch in einer ganz entgegengesetzten Sprache.
Demzufolge müsste man die Menschenrechte auf eine vor Trivialität strotzende Ebene herunterziehen, so dass die Äußerung „Verwirklichung der Menschenrechte“ nur noch bedeuten kann, dass der politisch Inhaftierte, der von einem Regime erniedrigt und körperlich gefoltert wird, beanstanden kann, dass er doch ein Recht habe, wie ein Mensch behandelt zu werden bzw. „Durchsetzung der Grundfreiheiten“ dann heißt, dass dieser, eingepfercht in ein kleines und dunkles Verließ, die Freiheit hat, sich einzubilden, er würde seine geliebte Frau wieder in die Arme schließen? Was wären das aber noch für Rechte und Freiheiten, die zwar jeder Mensch als Individuum besitzt, die er jedoch als einzelnes Individuum nicht durchzusetzen vermag? Trifft man mit dieser Aussage nicht auf eine aporetische Struktur, welche gleichzeitig auf ein praktisches Dilemma hindeutet und welche letztlich die Menschenrechte ad absurdum führt? Leider muss diese Frage eine bejahende Antwort finden; trotzdem vermag sich an dieser Stelle eine apologetische Spur in das Schreiben eingravieren, denn die Menschenrechte sind, gerade weil sie eben nicht individuell durchsetzbar sind, ein Ausdruck eines gemeinsam gefassten politischen Willens, dem gerade dadurch als moralischer Quelle normative Kraft zugesprochen wurde.
Aber, und hier tritt die nächste kritische Spannung hervor, ist dieser politische Wille nicht ein gestörter und geteilter Wille, denn es verhält sich in der Handhabung der Menschenrechte doch alles wie bei einer multiplen Persönlichkeit, die auf der Grundlage eines für gut befundenen Selbst, die anderen Persönlichkeiten von sich heilen will, wobei, wenn es um die Durchsetzung dieses guten Willens geht, zumeist die anderen für schlecht befundenen Persönlichkeiten obsiegen. Ist diese Haltung aber bloß akratisch zu nennen, und damit als allzumenschlich zu kennzeichnen, oder verbirgt sich hinter dieser Haltung eine absichtlich eingesetzte politische Strategie, die es den politischen Akteuren erlaubt, aufgrund ihres zur Schau gestellten guten Willens sich hinter der universellen Geltungskraft der Menschenrechte zu verstecken, so dass ihre verborgenen Absichten freies Geleit bekommen? Jedoch sollte man nicht den guten Willen infrage stellen, obwohl mich manchmal die Frage umtreibt, ob nicht vor allem die Gewährsmänner der sogenannten westlichen Welt die Menschenrechte an jeweils strategisch wichtigen Punkten bloß als Mittel zu ihren eigenen Zwecken einsetzen. Wäre dem aber so der Fall, würde also der höchste Zweck an sich selbst als bloßes Mittel zu strategischen Zwecken missbraucht, so würde sich dieser unterstellte gute Wille als Lüge demaskieren und man müsste letztendlich denjenigen ehrlicher heißen, der die Menschenrechte als nichtexistent betrachtet und der gleichzeitig diese Nichtexistenz durch die Einsicht substituiert, dass de facto alle menschlichen Zivilisationen auf Gewaltanwendungen beruhen, so dass die Würde und Freiheiten nivellierende Gewaltanwendung gegenüber anderen Menschen als legitim anerkannt werden müsste.
Ist es aber diese resignative Ehrlichkeit gegenüber unseren Handlungen, die wir wollen – und nur weil in dem höchsten Bestreben der Menschheit die höchste Vollkommenheit der doppelmoralischen Zunge des Menschen zischt – oder wollen wir zu einer anderen Form der Ehrlichkeit durchdringen, einer Ehrlichkeit gegenüber unseren eigenen moralischen Quellen? Es bedarf also einer vorgelagerten Gewissensentscheidung, denn ansonsten werden die Geschichte und unsere Erfahrung von weiterem Spott über unsere Handlungen berichten. Warum also nicht den Finger erheben, wenn man damit auch auf sich selbst und sein eigenes Verhalten zeigt, denn ohnehin wird jeder Einzelne gefordert sein, in Integrität zu handeln.