Aufzeichnungen eines Lebensringers in ungewöhnlichen Zeiten

Was bieten diese Aufzeichnungen? Sie gewähren Perspektiven aufs Leben in ungewöhnlichen Zeiten.

Eine Bekannte, der ich einige dieser Fragmente über einen Chat schickte, fragte mich, was das eigentlich solle. Ich schrieb ihr, dass ich wohl aus ihrer Sicht an wertlosen Münzen arbeite, die auf der einen Seite das Hineinträumen in ein gelingendes Leben umschreiben und auf der anderen Seite das Aufwachen in einer erschreckenden Welt bezeichnen. Wirf diese Münzen in die Lüfte, welche ihrer Seiten oben liegt, das liegt nicht in unserer Hand. Was wir jedoch vermögen, ist, sie aufzuheben, sie zu betrachten, sie zu lesen, sie versuchen zu verstehen und erneut in die Luft zu werfen. Daher hatte ich einige Freund*innen, mit denen ich in dieser ungewöhnlichen COVID-Zeit zu tun hatte, gebeten, wahlweise Münzen aufzulesen und sie aus ihrer Perspektive zu kommentieren. Dadurch entwickelte der Text eine Eigendynamik und ein lebendiges Gewebe entstand, das sein Bild stetig verändern kann und darf.

Ich glaube, du kannst da grôsser denken. mir kommt dazu immer wieder die methode des echolots von kempowski in den sinn. ausserdem der wunsch, der like-welt die realität ins gesicht zu schreien.

Die Bedeutung dieser Textform scheint ihr Gebrauch als Selbstsorge und Lebensform.

I.

Geteilte Zuneigung ist die schönste aller Neigungen.

II.

Ich suchte nach etwas Schönem und fand dich

III.

Leben kann sich unglaublich richtig anfühlen: nach langer Pilgerreise unter großen Strapazen und mit vielen Erlebnissen auf dem Jakobsweg stehe ich in der Schlange in einem Bioeisladen und freue mich auf leckere und fruchtige Eiskugeln während der Mittagshitze in Fisterra. Vor mir in der Reihe steht eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter. Das Kind mag vielleicht fünf sein, blond, mit lockigen Haaren. Plötzlich dreht sich dieses kleine Mädchen zu mir um und schaut mich mit großen Augen an. Eine Frage bewegt sie und sie zupft am Rock der Mutter, die sich aufmerksam zu ihr herumdreht. Das Mädchen fragt, ihren Blick zwischen der Mutter und mir wechselnd: „Ist das ein Pilger?“ Die Mutter schaut mich musternd von oben bis unten an und lächelt. Sie sagt: „Ja, das ist er!“ Niemals fühlte ich mich in meinem Leben besser erkannt.

Es ist nicht mehr von Interesse, aus welchem Land du stammst, welche Nationalität du besitzt, welche Sprache du sprichst, noch welche Hautfarbe du hast; auch das alles spaltendes Geld hat seine Macht verloren und wie ein Wunder sind wir alle Brüder und Schwestern geworden, weil uns ein Höheres vereint, dass es in uns einen Gott gibt und uns alle unendlich liebt. (Ganz gleichgültig in welcher Gestalt wir pilgern.)

Appendix: Als ich aus Hamburg kommend nach über 3000 km auf dem Fahrrad in Santiago de la Compostela ankam und ich mich überraschenderweise kurz von allen meinen Sünden befreit sah, gab es zwei Hafenstädte an der galizischen Küste, die mit der einmaligen Bezeichnung „Kilometer 0 des Jakobswegs“ aufwarteten. Ich ließ mich von dieser göttlichen Prüfung nicht beirren und ich besuchte einfach beide Orte. Muxía und Fisterra, zwei Enden einer Welt, mein Villarriba und Villabajo – gerne hätte ich ihren Streit über den gemeinsamen USP mit Fairy Ultra geschlichtet.

Muxía
Fisterra, Praia Mar de Fóra

IV.

Frage dich: was hast du dieser Welt zu schenken? Wenn du das Schöne und Einfache liebst, was liegt näher als der Welt ein Lächeln zu schenken.

V.

Wir tun das, was in unserer Hand liegt und wir wollen, dass das, was in unserer Hand liegt, gut ist. Was kann ein Menschenherz mehr erfüllen?

VI.

Ellerbek, Mühlenau (April 2020)

Neulich als ich Joggen war, lief ich entlang eines Walds, durch den ein kleiner Fluss fließt. Ich fühlte mich an diesem Tag nicht wohl und hatte beim Laufen Seitenstiche bekommen. Daher stoppte ich und ging erschöpft zum Ufer des Flusses. Da sah ich, wie ein Baumstamm über den Fluss führte. Ich erinnerte mich an die Studienzeit in Jena – beim Spazierengehen mit einem Freund waren wir häufig über ein Rohr über die Leutra balanciert. Diese Erinnerung ermutigte mich an diesem Tag über den Fluss zu balancieren. Dabei entstand während des Rückwegs beim Laufen die folgende Analogie: normalerweise, in sicheren Zeiten, geht man auf ebener Straße eine gerade gezeichnete Linie. Man wird mir wohl zustimmen, dass dies kein Problem ist, sofern man nicht unter Drogeneinfluss steht. Aber jetzt gehe über diesen Baumstamm, mit seinen Unebenheiten, der Aussicht, dass man herunterfallen und sich verletzen könnte. Diese Situation ist gänzlich anders und sie hat mich an die ungewöhnliche COVID-Zeit erinnert. Dabei ist mir klar geworden, dass wir uns jetzt viel stärker ausbalancieren müssen und Einseitigkeiten vermeiden sollten. Jede Einseitigkeit kann uns herunterreißen.

Jena, Leutra (August 2020)

Es bedarf der Anstrengung, um sein Leben im Gleichgewicht zu halten; manchmal verschwindend wenig, manchmal ein unendlicher Kraftakt. Warum diese kurze Unaufmerksamkeit, warum das Abschweifen vom goldenen Mittelweg? Wir sind vernunftbegabte Wesen, das heißt aber noch lange nicht, immer vernünftig zu sein. Wir haben Begierden in uns, die stark sind und die den goldenen Pfad verlassen wollen. Wenn wir es gleich bemerken, dann können wir es schnell noch zurück in die Balance finden; wenn erst spät, weil die Begierde festen Griff von uns hatte, wird die Umkehr zu einem Kraftakt und wenn zu spät, dann stürzt du vom Seil in den Abgrund.

Warum ist das so? Wenn wir auf dem Seil balancieren, denken wir, dass der Weg vorgegeben ist. Aber es gibt ständig Abzweige, Weichen, Abkürzungen, Umwegen, Einbahnstraßen, Sackgassen und Rundwege, dass wir nicht immer wissen, wohin wir den nächsten Fuß setzen sollen. Aber Du findest es heraus. Mache Fehler! – stürze ab wie eine Schildkröte in der Luft – und lerne schnell daraus. Mache erneut Fehler und lerne schnell daraus! Hab keine Scham und keine Furcht. Begebe dich ins Wagnis, gehe deinen Weg! Nur so wirst du ein Leben leben, das voller Lust und Abenteuer ist und das sich am Schluss als deinen Weg herausstellt, von dem du berichten kannst: „Ja, ich habe gelebt!“

„Nimm mich, wie ich mich gebe, und denke, daß es besser ist zu sterben, weil man lebte, als zu leben, weil man nie gelebt!“

Hölderlin

VII.

Apropos Balance, und wieder bin ich beim Laufen – es war am letzten Wochenende, während des Laufes nahm ich beide Hände in einer Yogahaltung vorne an die Brust. Ich sah wie beide Hände hin und her schwangen und fühlte eine innere Mitte, nennen wir es einen ausbalancierten Zustand des Wohlfühlens.

VIII.

Es gibt scheinbar endlos viele Sichtweisen auf das Leben. Daher nehme ich mir nicht heraus zu urteilen, welche Sichtweise die Richtige ist, ich nehme mir allerdings heraus zu entscheiden, welche Sichtweise für mich die Richtige ist.

IX.

Was lehrt uns Ungeduld? Sie zwingt uns zu Fehlern, sie trübt den Blick für tiefere Begegnungen, sie raubt die Luft zum langen Atem – sie ist ein Fass ohne Boden. Frage dich: ist das gut? Willst du das?

In den letzten Tagen bin ich immer wieder aus verschiedenen Mündern auf den Satz gestoßen: „Geduldig sein ist so schwer!“
Es ist das Ego in uns, das sofort dasjenige will, das es begehrt. Ohne Übung, ohne Kraftanstrengung, ohne „Wenn und Aber“, ohne es verdient zu haben, sondern wie ein König, der von oben herab spricht: „Ich nehme das Geschenk an. Als Zeichen meines Dankes wird der Schatzmeister Dich entlohnen.“

Nun mein Schätzchen, so einfach ist es aber nicht. Höre auf Rosen zu rauben, die du nicht gepflanzt. Erkenne, dass es dein Ego ist, das dich hier verführt. Erkenne, dass du wachsen sollst, zuerst groß werden als Strauch und erst danach, wenn es schon selbstverständlich geworden ist, zu einer Knospe zu werden, zu Dornen zu werden und letztlich zur Blüte. Erst dann bemerkst Du etwas Elementares, eine Erkenntnis bereit vom Ego, dass du keine Rose mehr abgeschnitten und geschenkt haben möchtest, weil du selbst zur Rose geworden bist.

X.

Warum wir so ungeduldig sind? Hier lohnt ein genauer Blick auf die Strukturen der modernen Gesellschaft und wie sie funktionieren, damit systemisch deren Erhalt gesichert wird. Wir sind einem permanenten kompetitiven Steigerungszwang unterworfen. Dieser betrifft nicht bloß die Wirtschaft, ebenso wurden andere Lebensbereiche von dieser Steigerungslogik kolonisiert. Die Leistungsfähigkeit zur Steigerung scheint alles zu überschatten. In diesem Schatten steht der moderne Mensch und muss sich mit seinem beschränkten Energiehaushalt selbst erhalten, so dass er in immer kürzerer Zeit immer mehr Dinge erledigen muss. Kann das gut gehen? Hier kommt die Ungeduld ins Spiel – sie wird zu einem inneren systemischen Zwang, der auf dem modernen Menschen lastet, weil er denkt, er komme sonst nicht mehr mit. Er ist eigentlich immer schon bei der nächsten Aufgabe, die es zu erledigen gilt – Depressionen und Burnout all inclusive (siehe: Alain Ehrenberg).

Ja, leider geht mit der neuen Zeitenwende das Symptom der Ungeduld einher. Sie hat tiefgreifende, vernichtende Folgen am Einzelnen, im Zwischenmenschlichen und auch gesellschaftspolitisch, – indem der Mensch nicht mehr das Warten, Innehalten, Aushalten pur am eigenen Leib erlebt und weil der Mensch durch die ständige Verfügbarkeit von Wissen, gepaart mit seiner (v.a. auch dadurch) bereits verinnerlichten Ungeduld, immer weniger Themen vertieft, verknüpft, Rückschlüsse zieht. Er wird es immer weniger können. Der moderne Mensch ist ungeduldig und immer weniger gebildet.

XI.

Wie war das mit der Balance? Ich fahre viel Fahrrad und habe mir angewöhnt auf einigen Strecken freihändig zu fahren. Auch auf dem Fahrrad falte ich dann meine Hände und lege sie in den Schoss. Durch die Beinbewegung schwingen sie und es entsteht für mich eine Mitte. Merkwürdig, wie ich an mir wahrnehme, dass mir das Laufen und Fahrradfahren guttun.

XII.

Das Bedeutsamste am Leben ist häufig das Schwerste im Leben. Man wird diese Schwere einfacher tragen, wenn man sich auch vom Leichten zu tragen weiß.

XIII.

Zu einem Freund gewandt: wir kennen unsere dunklen Zonen, ohne sie vermessen zu müssen.

Appendix: Verwegen schrieb ich eine englische Übersetzung an eine Freundin aus Australien: „To a friend: we know our dark zones without measuring them“.

Explain? What are you trying to say? <3

XIV.

„Noch auf andere Weise stiftet die Sexualisierung Verwirrung. Dadurch, dass sie eine Anhäufung sexueller Erlebnisse ermöglicht, ja zu ihr ermutigt, verwischt sie die Grenzen zwischen Beziehungen. Der moderne Weg, Beziehungen aufzubauen, lebte von der Fähigkeit, Grenzen zwischen ihnen zu ziehen, also zu definieren, wie und wo verschiedene Beziehungen beginnen und enden. Die Anhäufungen von Beziehungen erschwert es nun allerdings enorm, an klaren emotionalen und begrifflichen Kategorien festzuhalten, um Grenzen zwischen Beziehungen abstecken zu können, wie wir es etwa tun, wenn wir strikt zwischen Freunden und Liebhabern unterscheiden.“

Eva Illouz: Warum Liebe endet, Suhrkamp, Berlin 2018, S. 137

Was passiert eigentlich mit uns, wenn wir lieben, ohne dass diese Liebe positiv erwidert wird? Ganz einfach, wir haben Liebe nicht verstanden und wir sollten an dieser Stelle nicht von Liebe, sondern vom Begehren zu lieben und geliebt zu werden sprechen. Trifft sich das jedoch nicht wechselseitig, dann kann sich das Begehren mit dem Begehrten nicht erfüllen und das Begehren wird schädlich in vielerlei Weise. An dieser Stelle ist es dann ratsam, das Begehrte und die mit ihm verbundenen Emotionen loszulassen.

„Während das vormoderne Liebeswerben mit Gefühlen begann und mit Sex endete, der Schuldgefühle und Ängste hervorrufen konnte, beginnen zeitgenössische Beziehungen mit (lustvollem) Sex und müssen sich mit der angstbesetzten Herausforderung herumschlagen, Gefühle zu entwickeln. Der Körper ist zum Ort für den Ausdruck von Gefühlen geworden (wie es das Klischee besagt, dass sich die Qualität einer Beziehung an der Qualität des Sexes zeigt), Gefühle aber sind sexuellen Interaktionen äußerlich geworden. “

Eva Illouz: Warum Liebe endet, Suhrkamp, Berlin 2018, S. 144

XV.

Auf einen kurzen Moment: dir hat das Leben also zugesetzt? Du hattest die Absicht, eine neue Richtung einzuschlagen und die Reise war bereits gebucht? Nun ist alles anders und das Leben hat sich gegen dich gewendet? Es setzt dir in seiner Negativität zu und du bist geschwächt, fühlst dich schwach? Jetzt lerne, und sage dir, das ist genau die Reise, die ich gebucht habe – schaue hinaus durch dieses Fenster und sieh‘ das Grün – ist es nicht wunderbar? Du gehst dann deinen Weg.

XVI.

Sprechen wir über eine einzigartige Gabe: wir geraten mit einem fremden Menschen ins Gespräch und sehen in uns eine ganz neue Welt entstehen.

XVII.

Ich möchte an dieser Stelle eine Lanze fürs Alleinsein brechen und über den heilenden Ruf der Einsamkeit berichten, denn zu häufig beobachte ich Menschen, die Gesellschaft suchen und sich einsam fühlen, weil sie nicht gelernt haben, allein zu sein. Ich war seit fünf Tagen in Neuseeland, ein Neuankömmling in den Northlands am Lake Taharoa kurz vor dem Waipoua Kauri Forest. Ich hatte bereits unglaublich viel in den ersten Tagen erlebt und gesehen. Am Lake Taharoa sollte es meine erste Nacht im Zelt werden. Ich kam an diesem Tag recht früh auf dem Campingplatz an, so dass ich viel Zeit hatte. Als ich mir einen Platz zum Campen suchte – ich wollte möglichst nah am See übernachten, merkte ich, dass ich ein Fremder unter Einheimischen war. Um mich herum nutzten Maori das gute Wetter, um sich am Wochenende beim Schwimmen und Angeln zu entspannen. Sie hatten sich dazu einen schönen Ort ausgesucht. Ich allerdings hatte ihnen wenig zu bieten, außer dass ich durch einen heftigen Sonnenbrand wie ein Feuermelder aussah. Ich fühlte mich also an diesem Tag ziemlich verloren und obwohl ich nicht allein war, beschlich mich ein Gefühl der Einsamkeit. Daher entschied ich mich eine Wanderung zu machen, einen 10 km langen Track zum Tasmanischen Meer, der mich über unzählige Kuh- und Schafsfelder führte, bis ich schließlich mutterseelenallein ans Meer gelangte. Ich weiß bis heute nicht, was genau geschah – solche Momente überschreiten jegliche Intellektualität, aber mit einem Schlag war mir durch den Anblick dieses endlosen Meers der Atem geraubt und innerlich die Antwort abverlangt, dass es einen Gott geben müsse. Ich rief meiner toten Mutter zu: „Schau diese Schönheit!“ und fühlte mich allumfassend aufgehoben. Ich war glücklich und lächelte dem Meereswind selig entgegen. Die nächsten Wochen in Neuseeland sollten die Schönsten meines bisherigen Lebens werden.

XVIII.

Erzwinge nichts. Lass geschehen. Dies öffnet dein Herz und es passieren dann die wundersamsten Dinge und Begebenheiten.

XIX.

Wie schön! In einer einzigen kurzen Konversation ward ein Leben beschrieben und aufgefangen. So neulich als ich bei einem dieser Meetings teilnahm, von denen man nichts erwartet als rasenden Stillstand. Nicht an diesem Tag, denn es gab diesen plötzlich unerwarteten Abzweig, diese Sprengung, die alle Uneigentlichkeit des Alltags wegküsst und uns zu umarmten Menschenkindern macht. Hintergrund war, dass ich mich aus diesen Meetings bewusst zurückgezogen hatte, mich ein Zufall allerdings in diese Google Hangouts-Session führte. Mit anwesend waren eine neue Kollegin aus Deutschland und eine Spanierin, mit der ich zu Beginn des Jahres häufig zusammengearbeitet hatte. Über Dritte hatte sie mich bereits wissen lassen, dass sie meine Anwesenheit in den Meetings vermisse. Nachdem ich in dem Meeting meine Angelegenheit vorgetragen hatte, sagte sie zum Ende als wir das weitere Vorgehen besprachen: „Don’t get lost!“. Schlagartig berührte mich dieser Satz und ich antwortete: „I am lost!“ Sie lachte und sagte: „I know, I know!“.

XX.

Wofür wir viel zu selten dankbar sind: das Strahlen in den Augen, wenn sich die Blicke kreuzen und Beide wissen, alles ist okay.

XXI.

Gestern Abend hörte ich einen Podcast im Hotel Matze mit Hartmut Rosa über das gelingende Leben. Ich schätze Hartmut Rosa als Denker und Zeitdiagnostiker. Seine Resonanztheorie erinnert mich an die gemeinsamen Jenenser Wurzeln in der Frühromantik und seine Ansätze zu einer soziologischen Theorie der Unverfügbarkeit führt mich unweigerlich auf die Spuren der Ethik des Anderen von Emmanuel Levinas. In dem Podcast wurde im Verlauf die aktuelle COVID-Situation thematisiert. Im Zuge dessen erklärte Hartmut Rosa, dass diese Krise nicht vergleichbar mit der Finanzkrise rund um die Lehmannpleite sei. 2008 mit dem drohenden Zusammenbruch des Bankensystems sei die Rettung des ökonomischen Systems totalisiert worden, jetzt während der COVID-Situation zeige sich, das wirtschaftliche Interessen in den Hintergrund geraten seien und der Wert des Lebens die politischen Entscheidungen bestimme. Ich finde dieses Narrativ zur COVID-Situation sehr inspirierend und es macht mir Hoffnung, dass wir bereit sind, den Wert des Lebens über ökonomische Interessen zu stellen. Aber, und dieser Skeptizismus sei erlaubt, ist es womöglich zu kurz gegriffen?

Mit einem guten Freund bin ich darüber wiederholt in Disput geraten. Meine Lesart orientiert sich an Michel Foucault und seinem Begriff der Biopolitik und Gouvernementalität. Was ich auffällig fand, war die plötzliche Hervorhebung des Werts des Lebens, in einer Zeit, in der die Bevölkerung mit Handlungsvorschriften qua Unsicherheit der Datenlage politisch eingespannt und beschworen wurde. Es hätte öffentlich an allem fehlen können – an ausreichend Intensivbetten, Personal, technischer Ausstattung, nichts war absehbar. Dabei liegt die Vermutung nahe, dass dieser Fehlstand durchaus darauf zurückzuführen sein könnte, dass das öffentliche Gesundheitssystem seit Jahren dem Primat des effizienten Wirtschaftens unterworfen wurde und es in den Krankenhäusern heutzutage vor allem darum geht, Patienten nicht als Menschen zu behandeln, sondern als Umsätze zu verbuchen. Insofern könnte man dem politischen Systemerhaltsdispositiv unterstellen, dass es insgeheim um eine Verschleierungstrategie ging und das Verschleierte trotz der außerordentlichen Situation nicht sichtbar werden durfte, weil es gerade durch die Außerordentlichkeit revolutionäres Potential barg. Der plötzlich wiederentdeckte Wert des Lebens wäre also eine bloße Erfindung der Politik, ein Mittel zum Zweck, damit man die Bevölkerung besser steuern und die biopolitischen Regeln besser legitimieren konnte, die letztlich dem Schutz des politischen Systems dienten.

Diese Lesart ist gänzlich anders zu der Interpretation von Hartmut Rosa, sie impliziert, dass das politische System seine eigene Schwäche kaschieren wollte, dass das öffentliche Gesundheitssystem längst von wirtschaftlichen Interessen besetzt worden ist und dies nicht durch eine Überlastung des Gesundheitssystems so eklatant zum Ausdruck gebracht werden durfte.

Die Zukunft wird zeigen, welche Lesart wohl zutreffender ist: zum Beispiel werden wir beobachten, ob das politische System es weiterhin in Kauf nimmt, dass im Mittelmeer Menschen in Seenot nicht gerettet werden, schließlich sollte der Wert des Lebens unantastbar und unabhängig jeglicher Herkunft sein. Er sollte eben nicht Mittel zum Zweck sein.

Die Corona-Lehre, Thomas Gsella

Appendix 1: Frontex in illegale Pushbacks von Flüchtlingen verwickelt (23.10.2020) – „Griechische Sicherheitskräfte griffen die Migranten auf. Es wäre nun nach internationalem Recht ihre Pflicht gewesen, die Neuankömmlinge anzuhören, ihre Asylgesuche aufzunehmen. Stattdessen schleppten die Beamten die Schutzsuchenden zurück aufs offene Meer, setzten sie auf einem aufblasbaren Gummifloß aus.“

Appendix 2: Deutsche Bundespolizisten in illegalen Pushback verwickelt (28.11.2020)

XXII.

Was uns aufhorchen lassen sollte? Wir haben längst das Gefühl für das Unverfügbare verloren, weil wir unsere gesamten Denkmuster einem naturwissenschaftlich-technischen Paradigma unterworfen haben, das uns alles verfügbar machen soll. Im Zuge dieses Verdrängungsprozesses haben wir vergessen, dass die wichtigsten Dinge im Leben nicht verfügbar sind: Liebe, Freundschaft, Gesundheit, Glück, der Kosmos – die Liste ist jedem offen zu ergänzen. Wäre es daher nicht zu hoffen, dass uns die COVID-Situation in ihrer Unvorhergesehenheit die Augen öffnet, dass es Dinge gibt, die eben nicht in unserer Hand liegen.

Klar sollte jedem sein, in der Unverfügbarkeit liegt nicht einseitig Schlechtes – aus ihr folgen die großartigsten Geschehnisse und Zusammenhänge im Leben. Dafür ein Gefühl der Demut zu bewahren, stünde uns gut zu Gesicht.

Appendix: Zu Anfang der COVID-Pandemie habe ich immer wieder Menschen auf das Gedicht „Corona“ von Paul Celan aufmerksam gemacht. Es sollte ihnen eine positive Umwertung des Begriffes Corona ermöglichen. Inzwischen verstehe ich die darin liegende tiefergehende Analogie zur Unverfügbarkeit.

Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.

Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.

Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der
Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Es ist Zeit.

Corona, Paul Celan

XXIII.

Ein paar Worte zum Auseinanderdriften von Wunsch und Realität: es verwundert mich nicht, dass wir so innerlich zerrissen sind – was wird uns nicht alles vorgegaukelt, die wünschende Weltartikulation in ihrem permanenten Spiel aus Versprechen zur Wunscherfüllung wird zur Sinnsimulationsmaschine in unseren Herzen. Sie hat längst die moderne Gesellschaft in ein Simulakrum ihrer selbst übersetzt. Sobald diese Oberfläche „On“ ist, spielt der moderne Mensch bereitwillig mit, um sein besseres Selbst zu projizieren. Wir haben erkannt, dass auf der glatten Oberfläche des Digitalen alles manipulativ ist und dass in dieser Welt der Simulationen alles Wunschvolle schon längst über dem Wirklichen steht, besser: das projizierte Wunschvolle wird zur Realität gemacht, obwohl das „Off“ gänzlich andere Züge trägt. Damit wird die Fallhöhe für uns modernen Menschen immer größer, die Enttäuschung wird zu einem integralen Hiatus der „On-Off-Beziehung“ und für den Einzelnen kann das Hineinfallen in diese Spaltung des Herzens der unwiederbringliche Verlust von Zufriedenheit bedeuten.

XXIV.

Unzufriedenheit als Triebfeder konsumistischer Selbstaushöhlung: eine Freundin brachte mich auf diese Interpretation, indem sie fragte, ob nicht die Herstellung von Unzufriedenheit in den Individuen das eigentliche Ziel der Sinnsimulationsmaschine sei. Insofern wäre eine möglichst weite Fallhöhe zwischen Simulation und Wirklichkeit erwünscht. Auf diese Weise können dann durch die simulierte Welt viel effizienter Wunschvorstellungen getriggert werden – „so möchte ich auch sein!“, „das möchte ich auch haben!“, „das will ich auch machen!“ – die uns schließlich als Konsumenten aktivieren. Wären wir jeweils schon erfüllt, dann müssten wir diese Wunschvorstellungen nicht als gelingend für uns antizipieren. Das Spiel wäre aus, bevor es begonnen hätte. Doch als Mitspieler kaufen wir dann die Versprechen mit der Aussicht, dass das versprochene Gut uns zufriedener macht.

Aber wie stellen wir uns quer? Zunächst einmal ist eine einfache aufklärerische Einsicht zu formulieren: Das versprochene Gut ist im Grunde eine bloße Simulation – es ist eine Scheinwirklichkeit, Mara. Ob wir dann gänzlich dem Buddhismus folgen, dem täglichen Mantra dieses Satzes, das bleibt jedem selbst überlassen. Ein wenig mehr kritisches Bewusstsein über die Sinnsimulationsmaschine kann uns jedenfalls unterstützen, indem wir reale Quellen der Zufriedenheit aufspüren, die uns stärken und nicht durch Fallhöhen schwächen (wollen).

XXV.

Heute Morgen lag auf meiner Terrasse ein toter Vogel. Ich sammelte ihn auf und begrub ihn bei meinen Farngewächsen im Garten. Wie schnell das mit dem Absturz geht, erst frei durch die Lüfte, dann hart auf den Boden gefallen.

Appendix I.: Der Lauf des Lebens – heute Nachmittag stehe ich eine Woche nach dem Begräbnis des kleinen Vogels vor dem Grab und sehe, wie dieses wohl in dunkler Nacht ausgehoben und geräubert wurde.

Appendix II.: Wer thronte gestern Abend in der Dunkelheit auf dem Grab des toten Vogels und sah mir mit gespenstischen Augen dabei zu, wie ich eine Zigarette rauchte? Ob diese Katze wohl auf weitere Opfergaben wartete? Das erinnert mich an Wittgensteins Begriff der Abrichtung. Wie widerspenstig man sich dabei fühlen möge – auch wir Menschen werden abgerichtet.

Appendix III.: Heute Abend war sie wieder da – geschmeidig pirschte sie durch die Hecke. Es war noch hell, so dass ich sie besser beobachten konnte. Wieder schaute sie mich gespenstisch an und wartete, was ich tue. Bis, ja bis, ein Vogel oder eine Maus im Gebüsch raschelte. Dann nahm der Instinkt Besitz von ihr und sie machte sich auf die Jagd. Wie steht es eigentlich um unsere Instinkte?

XXVI.

Neulich recherchierte ich die großen Kriege in der Menschheitsgeschichte. Ich entdeckte eine seitenweise Liste von Kriegen auf Wikipedia, die den Zusatz trug, dass es lediglich die großen überlieferten Kriege aus eurozentristischer Sicht seien. Nun bemühte ich meine Vorstellungskraft und ich fragte mich, ob es wohl vorstellbar wäre, dass es in der Menschheitsgeschichte jemals eine Zeit gegeben hat, in der sich der Mensch nicht absichtlich Leid, Gewalt und Tod gebracht hat. Ich wurde sehr traurig, schluchzte und allein mir fehlte der Glaube. Ich kam zum Schluss: wo Absichten sind, sind Konflikte, sind Menschen, sind Tiere, die um Macht und ihr Überleben kämpfen. Darüber dachte ich lange nach und mir wurde klar, dass letztlich nur das Absehen von Absichten und der Aufgabe des unbedingten Willens zum Leben befriedet. Dieser Gedanke schreckte mich auf, denn wie soll das gehen? Ich rettete mich aus dieser ethischen Falle, in dem ich in einem moralisierenden Gedankengang Zuflucht suchte: vorausgesetzt, es ist gut, dass wir anderen Menschen kein Leid bringen und Gewalt antun, dann bedeutet dies, dass diejenigen, die nicht um jeden Preis für ihre Macht, ihre Absichten, ihren Willen zum Leben kämpfen, also diejenigen, die wir gerne als „die Schwachen“ bezeichnen, die Guten sind. Es sind nicht die Starken, die ihre Absichten unbedingt durchzusetzen trachten, die diese Welt zu einer besseren Welt machen, es sind die Schwachen, die ihre Waffen niederlegen – ein schöner Gedanke, der jedoch wenig hilfreich ist, um in dieser Welt zu überleben.

Es sind die Klugen, die ihre Waffen niederlegen, – bewusst aus Überzeugung, weil sie verstehen. Sie sind die Starken. Der Mensch lebt in Gesellschaft. Die Gesellschaft wirtschaftet. Ihre Grammatik: „Aufgeben ist keine Option“… Dieses Rad dreht sich seit jeher und ist Zündstoff der meisten Kriege. „Aufgeben ist keine Option“ , Der „Sieger“ (Schnellste, Höchste, Weiteste) bekommt den Preis… Schon als Kind wird einem die Grammatik des Siegens eingeflößt. Sie ist allgegenwärtig. Der Mensch spritzt sich sein (Todes-)Gift selbst, gleich nach der Muttermilch. Er „lernt“ Stärke und Schwäche in einem Sinn zu deuten, der zu Kriegen führt.

Ich denke, das macht die vermeintlich Schwachen zu den eigentlich Starken.

Ich glaube nicht, dass es unmöglich ist, Frieden zu haben, wo Menschen aufeinandertreffen. Und ich finde diese Glaubenssätze, mit denen wir alle aufgewachsen sind, auch richtig fatal. Weil sie aus einer sehr weißen, sehr privilegierten Welt kommen. – Ich meine das nicht böse, sondern ich meine, dass in einer anderen Betrachtung Möglichkeiten liegen könnten. Frieden zwischen Menschen zu erreichen, ist eine tägliche Aufgabe, ein tägliches Ziel, tägliche Arbeit an sich selbst und an den Umständen, die uns umgeben. Das ist das Problem: Dieser Arbeit ist kaum jemand gewachsen (ohne permanent Drogen zu nehmen).

XXVII.

Unsere ethische Alltagsklemme: das Richtige fordern und das Falsche tun.

XXVIII.

„Du Opfer!“ Diese unter der heutigen Jugend sehr beliebte Formulierung, um jemanden seinen Stand zuzuweisen, sagt alles über systemische Zwänge, die sich strukturell in Machtverhältnissen erhalten. Sei bloß kein Opfer, sei Täter schwirrt es im soziokulturellen Gedächtnis herum. Aber woher stammt dieses ach so menschlich, allzu menschliche Verhalten?

Ein Blick in die jüngere Geschichte reicht, um Antworten zu finden. Dabei blättere man 75 Jahre zurück – zum Ende des 2. Weltkriegs. Es steht außer Frage, dass die europäischen Juden, die von den Nazis systematisch verfolgt und ermordet wurden, Opfer im unvorstellbar außerordentlichsten Fall waren. Außerdem steht es wohl außer Frage, dass die in Nagasaki und Hiroshima von der Atombombe getroffenen Zivilisten Opfer waren. Die Überlebenden beider Gruppen, die Hibakusha in Japan und die Überlebenden der Shoa wurden nach Endes des Krieges als Opfer diskriminiert, seien es die Hibakusha, die in der Nachkriegszeit nur schwer einen Lebenspartner fanden, weil sich ihre Gene verändert haben könnten oder seien es die überlebenden Juden, die in ihren Heimatländern wieder auf Vorurteile trafen, sogar in erneuten Pogromen verfolgt wurden oder denen, angekommen in Palästina, vorgeworfen wurde, sie hätten sich nicht gewehrt.

Und in Deutschland und den USA? Was ist mit den Tätern? Einige wurden anscheinend noch belohnt. In den USA bekamen die Besatzungsmitglieder der Enola Gay allen voran Paul Tibbets Orden und in Deutschland kamen viele Täter aus den Einsatzgruppen und SS-Offiziere aus den Rechtswissenschaften in den staatlichen Dienst eines neuen Deutschlands. Selbst einer von ihnen wäre zu viel gewesen, hätte es wirklich „eine Stunde Null“ gegeben! Stattdessen fand die Aufarbeitung dessen erst ab den 90er Jahren in den deutschen Behörden statt. Zu dieser Zeit waren die Täter bereits in Rente oder verstorben. So etwas nennt sich Täterschutz und es wird klar, warum <man> eine Täterrolle vorzieht.

XXIX.

Vor einigen Tagen hörte ich das neue Werk von Max Richter mit dem Titel „Voices“. Es iteriert in verschiedenen Sprachen und durch musikalische Inszenierung die allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen. Seine musikalische Mahnung an und Hoffnung auf die Menschenrechte erinnerte mich an meinen Versuch einer Apologie der Menschenrechte von 2011.

Was war passiert? Das Unvorstellbare war passiert! Ein Krieg mit bis zu 80 Millionen Toten hatte die Welt in ihren Grundfesten erschüttert. Eine zutiefst verunsicherte Welt sehnte sich nach Frieden. So kam es zu dieser einzigartigen politischen Verkündung universeller Werte und Rechte. Diese gelten bis heute und bis heute werden sie politisch angerufen, verteidigt oder mit Füßen getreten. Hören wir Richter und gedenken dieser universeller Werte und Rechte. Lasst uns nicht ihren Ursprung vergessen und schreien wir auf, wenn sie gebeugt oder vergewaltigt werden. Wir sind die Stimmen in Max Richters Opus Magnum „Voices“. Rufen wir unser Gewissen und mahnen uns zur Integrität.  

Voices von Max Richter

Appendix: Eine Apologie der Menschenrechte

XXX.

Ich habe ein Problem mit der gängigen Auffassung, dass man im Leben ankommen soll und müsse. Ich finde das schrecklich, denn es impliziert, dass man zu einem Ende kommt und das einzige Ende, welches sich mir im Leben erschließt, ist der eigene Tod. Daher ziehe ich es vor, mein Leben als eine Reise zu beschreiben und mich als Reisenden zu begreifen. Man könnte es auch auf diese Weise formulieren: ich bin im Leben nicht bereit, eine Todesstarre zu leben, um das eigentliche Werden im Vergehen zu verdrängen.

Appendix: Die meisten Leute reisen wie sie leben wollen – Hauptsache ankommen. Sie steigen in den Zug, das Auto, das Flugzeug und blenden den Weg, den Sie zurücklegen, vollkommen aus. Der Weg ist ihnen bloß Last, nicht Lust. Die Lust beginnt erst mit dem Ankommen. Für mich war Reisen immer Weg. Ankommen ist etwas Schönes, aber der Weg ist besser.

„Der Weg ist immer besser als die schönste Herberge.“

Cervantes

XXXI.

Ein Rat fürs Leben: die meisten Menschen werden Ehrlichkeit ihnen gegenüber nicht schätzen, sie wollen lieber belogen werden – wenn du also ehrlich sein willst, dann nehme dir ein Blatt Papier und schreibe. Das wird dir gleich von zwei Seiten zugutekommen: du lebst dann im Frieden mit dir und mit den anderen.

XXXII.

Folge nicht blindlings den Leitbullen dieser Welt. Dazu will ich nach künstlerisch freier Erfindung („Epimenides der Kreter sagte: Alle Kreter sind Lügner.“) eine kleine Geschichte erzählen. Es war Mitte Februar als die COVID-Situation in Europa gefühlt in weiter Ferne lag. Lediglich in Asien insbesondere in China war die Situation besorgniserregend. An dem Tag als diese Geschichte ihren Anfang nahm, berichtete die WHO von möglichen Millionen von Opfern einer Pandemie. Ich berichtete davon meinen zwei Vorgesetzten, mit denen ich gerade im Begriff war, meine erbrachte Arbeit im Jahr 2019 zu bewerten. Beide wirkten als ich von dieser Neuigkeit erzählte distanziert, so als ob es sie nicht beträfe. Ich erinnere mich, wie ich überrascht war, dass sie das nicht ernst zu nehmen schienen. Dabei gab mein direkter Vorgesetzter zu bedenken, daß es mit Sicherheit diesem Planeten guttäte, wenn ihn weniger Menschen bevölkern, woraufhin der Geschäftsführer, für dessen Unternehmen ich arbeitete, ergänzte, dass so eine Art Säuberung ja durchaus ein Segen sein könne. Den Begriff „Säuberung“ konnte ich an dieser Stelle nicht unkommentiert lassen, so dass ich es wagte, ihn zurechtzuweisen und ich ihm sagte, dass er in den Verdacht gerate, Nazisprache zu verwenden. Anderthalb Monate später – COVID-19 war mitten in Deutschland angekommen, so sollten wir bereits dem Büro fernbleiben – gab es einen Videocall der Geschäftsführung zur COVID-Situation im Unternehmen. In diesem Call zeichnete der Chef ein sehr düsteres Bild von der Zukunft. Denn jetzt ging es um ihn, sein Geschäft, seinen Umsatz. Es wurde versucht innerhalb der Belegschaft Angst zu schüren, es seien Einsparmaßnahmen nötig, eventuell werde man Kurzarbeit beantragen. Vier Woche später in einem erneuten COVID-Call ging dieses Gebaren weiter – die schwächsten Glieder wurden sozial gerecht entlassen und wir wurden aufgefordert, eine Einwilligung zur Kurzarbeit zu unterzeichnen. Und die Belegschaft? Sie zog mit, arbeitete noch härter, übte sich in Verzicht – sie folgte brav dem Schwanzwedeln des Leitbullens.   

Appendix I.: Gut drei Monate sind seitdem vergangen. Es waren für mich die letzten Tage bei diesem Arbeitgeber. Jetzt hieß es offiziell von Unternehmensseite: wir suchen wieder aktiv Mitarbeiter – wir wollen wachsen! Wie schnell sich die Zeiten ändern.

Appendix II.: Zum Abschied bekam ich diesen Gutschein für eine 1:1 Session mit einer Autorin und Schreibtherapeutin. Wie passend zu diesen COVID-Aufzeichnungen und der in dieser Geschichte angewendeten romantischen Ironie, dass es dieses Unternehmen eigentlich gar nicht gibt.

„Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!
Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für
euch erwerben zu müssen.
Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind, wenn mit
der Leere eurer Herzen gerechnet wird!
Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet!
Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!“

Wacht auf (1950), Günter Eich

XXXIII.

Glauben und Liebe

// Diese Tür öffnet sich dem Herzen, wenn das Streben ein Erlöschen im Schweifen über das im Sonnenlicht gebadete Tal. Einst warst du wilder Sturm, der in wärmeren Gefilden der Obhut losbrach, um im Meer der tausend Gedanken hohe Wellen zu schlagen. Zerbrochen sind sie an den steinigen Felsen, die als Kolosse unsere Welt auf Macht und Spiel justieren. Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit – ach, all diese großen Werte verloren im Dünken der Menschenhände. Ein Lebensringer ward dir im Seufzen der tiefen Befangenheit geboren, ein Dichter, ein Reisender, ein Schreiender, der unstet Zeiten durchschreitet… \\

XXXIV.

Dieser innere Sehnsuchtsfahrer: er ist und bleibt ein schwieriges Kind.

XXXV.

Glauben = Ethisches und Liebe = Ästhetisches – Kierkegaard schreit auf: „mein Guter, „Entweder Oder“. „Warum nicht sym-sym denken?“, frage ich. „Wenn das Leben etwas aushält, dann den Widerspruch.“ Philosophen sind einfach Weicheier.

Appendix I.: Und Kant bringt eh nix.

Appendix II.: Ein Beispiel. Bilde dir Glaubensätze entlang der Dinge, die dir im Leben wichtig sind, z.B. ich glaube, dass der Schutz der Natur wichtig ist. Sodann folgere daraus Handlungssätze, die ein ästhetisches Wohlgefallen in dir auslösen, die du liebst, z.B. beim Fahrradfahren fühle ich mich gut und frei. Kombiniere diese miteinander und grenze andere Handlungsweisen davon ab, heißt in diesem Fall: zum Schutz der Natur fahre ich mit dem Fahrrad und nicht mit dem Auto zur Arbeit. Das gefällt mir und hat Stil. Insofern würde ich mich dann zwar als Porschefahrer womöglich ästhetisch verhalten, jedoch unethisch handeln. Als Fahrradfahrer löse ich sowohl die ethische als auch ästhetische Weltsicht ein. Das ist gelingend auf viele Bereiche des Lebens anzuwenden. Bilde. Folgere. Kombiniere. Grenze ab. Liebe, was du tust. Ziemlich einfach, oder? Na ja, am Ende hat Kierkegaard dann doch richtig gelegen und es heißt „Entweder Porsche oder Fahrrad“. Umso wichtiger ist es dann, sich über den ersten Punkt Klarheit zu verschaffen. Dann kommt die echte Leidenschaft ganz von alleine.

… und im Licht von Liebe, – unsterblicher Liebe – … bekommt alles Sinn und Zeit

Appendix III.: Und ja Kant, würde sich am Ende der kategorische Imperativ dazugesellen, wäre es korrektiv nicht verkehrt.

XXXVI.

Zurückgekehrt von einer zweiwöchigen Fahrradreise entlang der Elbe stehe ich am frühen Morgen im Garten: ein kleiner Junge muss zur Schule, er schluchzt und weint. Seine Mutter schreit ihn lauthals an: „Ich will dich hier nicht mehr sehen! Geh weg!“ Wie hässlich diese Welt sein kann. Bedenke ihre Amplituden. Leben schwingt.

Appendix: Genau eine Woche später, etwa zur gleichen Zeit – derselbe Junge muss in die Schule. Ich höre ihn wie er Laute des Erstickens von sich gibt. Nachdem er sich verausgabt hat, ruft er gequält zu seiner Mutter: „Nicht Tschüss! Ich liebe dich nicht!“. Das Leben schwingt und wir sind seine Schausteller.

XXXVII.

Mein Leben hat sich auf der jüngsten Fahrradreise entlang der Elbe entmaterialisiert. Zuerst riss der Bügel von der rechten Fahrradtasche, dann die Naht des rechten Schuhs, sodann brach der Schlüsselanhänger von seinem Hacken, woraufhin sich der Fahrradständer verabschiedete und zuletzt zersetzte sich mein Gaskocher in seine Einzelteile. Was für ein Verschleiß dachte ich und erinnerte mich an meine Lektüre von Thoreaus ‚Walden‘. Mir wurde bewusst, wie Verlust erfinderisch macht und viele Dinge des Gebrauchs nicht nötig sind. Anstatt also das Fahrrad auf seinem Ständer abzustellen, lehnte ich es fortan gegen eine Wand, die kaputte Fahrradtasche band ich mit der anderen Fahrradtasche durch eine Signalweste zusammen und auf den morgendlichen Kaffee im Zelt verzichtete ich. Ich holte mir dann meist später einen Kaffee in einer Bäckerei. Von den neuen Schuhen, die ich mir in Wittenberg (Lutherstadt) kaufte, bekam ich nach zwei Tagen des Tragens Blasen – das hätte ich mir also gleich sparen können und ich trug dann einfach die kaputten, alten Schuhe weiter. Einzig der neue Schlüsselanhänger, ein Marienkäfer aus einem Weltladen in Meißen, bleibt als Erinnerungsstück an diese Fahrradreise zurück.

Appendix: Am Wochenende traf ich eine Freundin in Wismar. Ich erzählte ihr diese Geschichte und zeigte ihr voller Stolz den Schlüsselanhänger mit dem Marienkäfer: sie schaute mich entgeistert an und fragte mich, wie alt ich eigentlich sei.

XXXVIII.

Du sagst, du kannst nicht aus deiner Haut! Du machst es dir zu einfach, denn du nimmst etwas nicht Veränderbares als Grund für Veränderbares.  

Appendix: „Yeah, I guess the end is here.“ (Phoebe Bridgers – I know the end)

Über den Autor

Lebensringer

Mal Dichter, mal Denker, mal Marketingfuzzi, der am liebsten als radelnder "Lost Boy" auf Abenteuerreisen geht.

"Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang."

[Rainer Maria Rilke]

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Von Lebensringer

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